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Schuldgefühle als Incentive?

    In der Fachpresse meiner Zunft bin ich über die amerikanische Forschung zum Schuldgefühl gestolpert. Dort ist der Hang zu Schuldgefühlen eine wichtige Persönlichkeitseigenschaft: Wenig überraschend ergibt es sich, dass Menschen mit einer ausgeprägten Neigung zur Schuld weniger delinquentes oder antisoziales Verhalten zeigen als Menschen mit niedriger Ausprägung. „Schuldanfälligkeit“ ist darüber hinaus stark mit ethischen und moralischen Prinzipien verbunden 1.

    Zynischerweise wird auch darüber nachgedacht, wie man diesen Mechanismus psychologisch nutzen kann, um organisationsschädigendes Verhalten von Mitarbeitern zu verhindern 2. Ein Schelm, der Böses denkt: Hier könnte man Schuldgefühle auch als Incentive instrumentalisieren wollen.

    Für mich stellt sich die Frage, inwieweit wir in der Heiler-Zunft die persönliche Neigung zu Schuldgefühlen als prosoziale Eigenschaft fördern wollen. Dazu zwei Aspekte:

    1. Erstens handelt es sich um ein Vermeidungsziel, wenn ich etwas nur nicht tue, weil ich durch mein Handeln Schuld empfinden könnte. Vermeidungsziele schränken ein anstatt den Blick zu erweitern, was die Gefahr mit sich bringt, dass Chancen zur eigenen persönlichen oder auch der gesellschaftlichen Entwicklung vielleicht übersehen werden.
    2. Zweitens gibt es aus meiner Sicht höhere Ebenen von Moral und Ethik als die abrahamitische bzw. alttestamentarische Form (siehe dazu meinen Artikel über abrahamitische Schöpfungsmythen ), in der man Schlechtes vermeiden soll, um Strafen zu vermeiden 3. Wenn wir es schaffen, unser pro-soziales Handeln auf ein Verantwortungsgefühl gegenüber uns und der Welt (von der wir ein Teil sind) zu gründen, müssen wir vielleicht gar nicht mehr über Vermeidung von dysfunktionalem Verhalten sprechen.
    Fußnoten
    1. Cohen, Taya R., A. T. Panter, und Nazli Turan. „Guilt Proneness and Moral Character“. Current Directions in Psychological Science 21, Nr. 5 (Oktober 2012): 355–59. https://doi.org/10.1177/0963721412454874.
    2. zum Beispiel jüngst erschienen: Schaumberg, Rebecca, und Francis Flynn. „Refining the Guilt Proneness Construct and Theorizing about Its Role in Conformity and Deviance in Organizations“. Research in Organizational Behavior, Januar 2021, 100123. https://doi.org/10.1016/j.riob.2020.100123
    3. ich denke, man kann die oben erwähnte Forschung im Lichte des Standorts „USA“ und den dort weit verbreiteten evangelikalen Strömungen betrachten

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